Ein Mord für den Lord
Inspector Thomas Lynley und das Geheimnis seines Charmes
Seine geistige Mutter, die Krimiautorin Elizabeth George, ist Amerikanerin. Inspector Lynley, ihr Titelheld aus mittlerweile neun Bestsellern, aber ist Engländer. Britisch bis auf die Knochen. Ein Engländer also. Und was für einer. Lord Asherton oder auch Sir Thomas Lynley mit Familiensitz und Ländereien in Cornwall sowie einem Stadthaus in Londons vornehmstem Stadtteil Belgravia. Mitte dreißig ist er und blond, sehr blond. Und dann sieht er auch noch umwerfend gut aus! Natürlich war Lynley in Eton. Geschichte hat er studiert, natürlich in Oxford. Und jetzt steht er im Dienste der Gerechtigkeit. Als Detective Inspector bei New Scotland Yard löst er elegant und ambitioniert die kompliziertesten Mordfälle.
Ein perfekter Held wie es scheint. Aber Elizabeth George ist es gelungen, ihrem Lynley Charakter zu verschaffen. Er hat neben seinen guten Seiten auch Ecken und Kanten. Auf der einen Seite ist er der höfliche Brite, der schon fast zu englisch ist. So ist er natürlich ein leidenschaftlicher Teetrinker, der nur die besten indischen Teesorten sein eigen nennt. Zum Frühstück gibt es in seinem Haus Eier und gegrillte Tomaten mit Speck, die tatsächlich von einem Butler namens Denton serviert werden. Lynley ist Liebhaber der klassischen Musik und versierter Kenner der italienischen Küche. Maßgeschneiderte Anzüge aus der Savile Row sind seine Alltagskleidung. Burberry's und Barbour hängen in seinem Schrank für die obligatorischen Landpartien. Und selbstverständlich fährt er einen Bentley. Seit dem letzten Roman ist er mit einer echten Lady verheiratet. Sir Thomas Lynley - ein britischer, adliger Gentleman also wie er im (im wahrsten Sinne) Buche steht.
Auf der anderen Seite ist Lynley nicht nur das Abziehbild seiner Klasse. Seine Schwächen und Probleme sind es, die ihn liebenswert und die Krimis so erfolgreich machen. Schuldgefühle und Unsicherheit bestimmen Lynleys Leben. So fühlt er sich fälschlicherweise verantwortlich für den langsamen Tod seines Vaters. Seine Mutter ist ihm zeitweise verhaßt, weil sie einen Liebhaber hatte, als sein Vater im Sterben lag. Der Drogensucht des jüngeren Bruders steht Lynley als Polizeibeamter und Bruder hilflos gegenüber. Den Zigaretten, seiner eigenen Sucht, hat er allerdings abgeschworen. Er läuft jetzt im Joggingdress von Harrod's durch den Hyde Park.
Auch in der Liebe beweist der schöne und begehrte Lynley nicht immer ein glückliches Händchen. Als Londoner Herzensbrecher berühmt und berüchtigt, gehört sein Herz lange Zeit nur einer Frau: Deborah, der Tochter des Butlers seines alten Freundes Simon Allcourt-St. James. An diesen bindet ihn eine tiefe Schuld. Als junger und unbeschwerter Upper-class-Sprößling hat Lynley den Freund betrunken zum Krüppel gefahren. Die Freundschaft der beiden ist nicht nur dadurch schwer belastet. Denn nach ihrer Verlobung verläßt Deborah Lynley, um St. James zu heiraten.
Der Verlust der Geliebten erlaubt Lynley, Gefühle zu zeigen. So beobachtet der Leser gerührt, wie der edle Lord mit den Tränen und der Einsamkeit kämpft. Lady Helen Clyde, pikanterweise die Ex-Verlobte von St. James, ist seine Rettung. Bis Lynley jedoch das Herz seiner jetzigen Frau erobert, muß der Leser lange zittern. Von tiefer Freundschaft über eine Bettaffäre hin zur Hochzeit zieht sich die Beziehung der beiden über mehr als fünf der Romane.
Perfekt ist er nicht, der Inspektor. So schläft er schon mal mit einer Verdächtigen oder unterschlägt ein Geständnis, weil der Täter ein alter Bekannter aus Eton ist. Denn Lynley ist auch konservativ. Tradition und Ehre stecken tief in seinen englischen Knochen. Doch die Früchte seiner Erziehung machen ihm das Leben als Inspektor schwer. Oft weiß er nicht, wem sein Solidarität gelten soll: New Scotland Yard oder dem Ehrenkodex der Angehörigen seiner Klasse, der britischen upper class.
Aber: im Zweifel ist er gerecht. So gerecht, daß er manchmal an der Grausamkeit der Menschen zu verzweifeln droht. Und auch der Leser verzweifelt fast an Lynleys Gerechtigkeitssinn. So läßt er die Mörderin eines grausamen Despoten verhaften, obwohl er sie hätte laufen lassen können, ohne dienstliche Konsequenzen fürchten zu müssen.
Lynley hat einen weiblichen Gegenpol. Seine Assistentin ist Sergeant Barbara Havers, eine typische Angehörige der working class. Sie neigt dazu, alles Elend der Welt auf das Klassensystem zurückzuführen. Das führt zwangsläufig zu Reibereien. Aber dem einnehmenden Lynley gelingt es, den Panzer seiner Sergeantin zu knacken. Niemals wirkt es aufgesetzt oder gönnerhaft, wenn er der sozial schwächeren Havers helfend unter die Arme greifen will. Ohne Arroganz trinkt Lynley in Havers ärmlicher Unterkunft inmitten von tropfender Unterwäsche Tee aus Beuteln. Denn Lynley ist kein Snob, er läßt sich zu. Und so freunden sich die beiden im Laufe ihrer Zusammenarbeit beinahe an; ist Barbara Havers doch eine der wenigen Gäste auf Lynleys Hochzeitsfeier.
Genau das macht Thomas Lynley, seine Lordschaft Asherton, so ungemein sympathisch. Er ist ganz ohne Standesdünkel. Und doch ist und bleibt er ein Angehöriger der uralten englischen Adelsklasse. Lynley repräsentiert beides: die festgelegten und konservativen Regeln der upper class sowie das Gewissen eines "normalen" Polizeibeamten, der vor der Schlechtigkeit der Menschen beinahe kapituliert.
Elizabeth George ist es gelungen, einen wunderbar menschlichen Inspektor zu erschaffen, der traditionsbewußt und doch von dieser Welt ist. So echt, so authentisch erscheint dieser Lynley, daß man einfach bei New Scotland Yard anrufen und Inspector Thomas Lynley verlangen möchte. Wer weiß ...
© 1999 by Bianca Reineke, Berlin
© 1999 by Hainholz Verlag, Göttingen
© 1998-2002 by wortlaut.de, Göttingen